„Der Sammler“

von Patrick Roche

 

Ich spreche heute zu dir und hoffe, dass du kurz Zeit für mich hast. Ich stand heute schon öfter vor deiner Tür, aber ich hatte bis jetzt noch nicht den Mut anzuklopfen.

Jetzt, da wir uns gegenüber sitzen, sieh dir bitte an, was ich dir geben möchte: Vielleicht erkennst du den dünnen Halm, den ich in der Muschel meiner Handflächen trage. Größer als er es jetzt ist, wird er vielleicht nie wachsen, dennoch ist er alles, was mir noch bleibt.

Nimm diesen Halm – diese Luftröhre – zwischen Mittelfinger und Daumen. Wenn du willst, kannst du ein paar Mal leicht darüber streichen und die geschwungenen Rillen nachfahren; all die kleinen Risse und Kratzer abtasten, um das Alter meiner Seele zu erfahren. Manche der Kerben verraten dir vielleicht, wo ich schon gewesen bin. Sie erzählen von Bildern auf einem Stück Treibholz über meinem Bett. Dort zeichne ich die Gesichter der Menschen, die mir am wichtigsten sind; jede Falte, jede Wimper, jede Pore ist eine Landkarte. Täglich stehe ich davor und sehe sie mir an. Und manchmal ziehe ich die eine oder andere Linie nach, nur um zu sehen, wo sie mich hinführt.

Taste jetzt weiter entlang des Halms, den ich dir gab. Seine Kerben werden dir von bestimmten Orten auf den Landkarten erzählen. Orte, die bunt und voller Licht sind. Jeder Ort erzählt eine kleine Geschichte. Allesamt zu lang, um sie sich hier anzuhören, aber sie sind alle da; dort in deiner Hand.

Diese eine hier, spürst du sie? Sie ist der Grund, weswegen ich heute bei dir bin. Sie erzählt von einem Gesicht, das ich zu zeichnen verlernt habe. Ein Gesicht, das ich gut kenne, aber nicht mehr sehen kann.

Nicht jeder hat die Geduld, sich all dies anzusehen. Und einfach davon auszugehen, dass du Interesse daran haben könntest, ist vielleicht dumm von mir. Ich selbst habe auch nie nach dem Halm eines anderen gefragt und ich weiß nicht, ob ich es jemals tun werde. Dennoch möchte ich dir heute meinen anbieten.

Man erzählt sich, du seist ein Sammler dieser Halme. In Einmachgläsern konserviert, schwimmen sie in einer trüben Flüssigkeit aus Gedanken – hundertfach gestapelt. Du studierst sie, nicht wahr? So wie ich vor meinen Landkarten stehe. Du liest in ihnen, als seien sie Bücher. Bücher voll mit kleinen Gedichten über die Welt da draußen. Eine Welt, die zu weit von deinem Haus entfernt zu existieren scheint, als dass du sie je besuchen könntest.

Sieh dir meinen Halm in deiner Hand an. Ich könnte auch zu einem Dichter werden, wenn du es möchtest.

Stell mit der Luftröhre meiner kleinen Welt an, was immer du möchtest. Du kannst mir den Halm zurückgeben und wir werden nicht mehr darüber sprechen. Du kannst ihn aber auch zerdrücken, wenn dir danach ist, und ihn zu all den anderen toten Dichtern in ein Glas stellen. Ich werde hier sitzen und warten.

 

 

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