„Ranzige Milch“

von Thomas Peters

 

Es hilft nur Beethoven, am besten die Mondscheinsonate. Trauer umhüllt meinen Geist und Müdigkeit liegt auf meinem Körper. Mit Armen schwer wie Blei bereite ich einen Cappuccino zu. Er schmeckt furchtbar. Leider war die Milch ranzig, was ich natürlich nicht direkt merken konnte, sondern erst nach dem aufwendigen morgendlichen Ritual an der Espressomaschine. Der Schaum sah ja schon irgendwie komisch aus: tendenziell gebrochen, kaputt, aufgewühlt – passt ins Bild.

Eben war ich noch so glücklich, war aufgeregt wie ein kleines Kind am Heiligen Abend, das ein großes Paket auspacken darf; nur war meins eben eine Frau – nein, eher ein Engel. Elektrisierend war ihr Kuss, der den meinen erwiderte. Alle Liebe, alle Leidenschaft, alles Hoffen und Bangen legte ich in diesen Moment. Und alle Trauer der Welt war vergessen.

Das lieblichste Wesen, das jemals auf Erden wandelte, schien sie mir zu sein. Wunderhübsch in ihrer Zierlichkeit und mit goldenem Haar stand sie genau so aufgeregt vor mir, wie ich vor ihr. Keine Worte, nur Blicke der Unsicherheit tauschten wir aus. Unfassbar glücklich war ich, so dass ich keine weiteren Pläne für irgendetwas anderes in meinem Leben auch nur ansatzweise denken konnte. Vergangenheit und Zukunft lagen in diesem Moment, und ich bemüht lediglich darum, sie mein inneres Zittern nicht spüren zu lassen; nur damit beschäftigt, den Moment zu genießen und mich gleichzeitig zu bremsen, meine Hände unter Kontrolle zu halten. Denn sie hielten dieses wunderbare namenlose Geschöpf an den Hüften und waren dabei so unwirklich kraftlos wie noch nie. Ich durfte diese Frau nicht zerbrechen, war sie doch wertvoller als jedes von Menschen geschaffene Gebilde. In wenigen Sekunden verloren die Errungenschaften von Jahrhunderten all ihren Glanz.

Sie war so perfekt, dass ihre Umarmung für alle Zeiten alle anderen Umarmungen jeder anderen Frau gleich an welchem Ort in eine Zweitklassigkeit verbannen musste, dass es einem schaudern konnte. Doch mir schauderte es nicht. Ich fühlte mein größtes Glück, weil alle Begehren gestillt, alle Sorgen vergessen und alle Gedanken, außer dem an sie, verstummt waren. Ich verlor mich im Glück des Nichts bis ich wieder in dieser Welt erwachte.

Deshalb Beethoven, weil er den Moment, in dem sich der Träumende des Traumes bewusst wird und mit ungläubigem Entsetzen herausgezogen wird aus der Wärme und dem Glück in die Kälte der Realität, in weltliche Musik zu bannen versucht, weil es die Melodie des unvermeidbaren Abschieds ist, weil es die Erkenntnis des Unlösbaren bestärkt, und weil man sich im Elend erkennt und es dadurch greifbarer und erträglicher macht.

 

© 2013 Morisken Verlag München

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