„MS Kristmastree“

von Heribert Riesenhuber aus: Weihnachtskarpfen – Zwei Dutzend Einfälle

 

Als Monika eine Stelle bei Kristmas-Kreuzfahrten annahm, war sie nicht sicher, ob das die richtige Entscheidung gewesen war. Immerhin bedeutete es, dass sie die Feiertage nicht mehr mit ihrer Familie verbringen konnte. Denn Kristmas-Kreuzfahrten hatte – naturgemäß – sein Hauptgeschäft von Anfang Dezember bis Mitte Januar. Aber das bedeutete auch, dass Monika die dunkelste und kälteste Zeit des Jahres im sonnigen Süden verbringen konnte. Also hatte sie unterschrieben.

Das Schiff, die MS Kristmastree, war großartig und die Passagiere – reiche, alte Leute – waren nett, wenn man sie nur mit der gebotenen Demut und der Unterwürfigkeit eines Hundes behandelte. Anfangs war Monika überwältigt von den Einkaufsmöglichkeiten, die sich an Bord befanden. Es gab nichts, was man hier nicht kaufen konnte. Sogar ein eigenes Kaufhaus nur mit Kinderspielzeug gab es. Obwohl sich kaum ein Kind auf dem Schiff befand. Die Reisen führten fast immer in den indischen oder pazifischen Ozean, nach Ceylon, Java oder nach Sumatra, wo es ein angenehmes Klima und romantische Palmeninseln gibt.

Höhepunkt einer jeden Fahrt ist natürlich die große Weihnachtsfeier mit dem Festtagsbuffet, bei dem hunderte von Wachteln, zweiundfünfzig Truthähne, etliche Spanferkel, zweihundert Atlantikhummer sowie kiloweise Crevetten und anderes Kleingetier darauf warteten, verspeist zu werden. Im ersten Jahr hatte Monika noch minutenlang ungläubig auf die Berge von Lebensmitteln gestarrt und bezweifelt, dass diese jemals würden bewältigt werden können. Inzwischen hat sie sich auch daran gewöhnt. Am Abend dann holt man, als besondere Überraschung, eine Handvoll einheimischer Kinder an Bord und stellt sie vor die mit bunten Lampen geschmückten Weihnachtspalmen. Dort können die Gäste sie dann nach Belieben mit dem ganzen Plunder beschenken, den es an Bord zu kaufen gibt: die neuesten Computerspiele, Modellhubschrauber mit Fernbedienung, Plastikbausätze von Dinosauriern, Puppen mit frisierbarem Haar, ein Fahrrad mit Elektromotor. Nach der Bescherung macht man sich über das Buffet her, und was übrig bleibt, wird einfach in Geschenkdosen aus grünem Plastik verpackt und über Bord geworfen. Denn unten im Wasser warten bereits die Eingeborenen in ihren wackeligen Einbäumen, um nach den Resten des Weihnachtsbuffets zu angeln. Ein herzerwärmender Anblick, bei dem Monika jedes Mal vor Rührung seufzen muss.

Inzwischen war Monika schon seit vier Jahren bei Kristmas-Kreuzfahrten – und sie hatte es keinen Augenblick lang bereut. Den Glanz in den Augen der Kinder zu sehen, wenn sie wieder von Bord geschickt wurden, entschädigte sie für jede Strapaze. Und mit ihrer Familie hatte sie das Weihnachtsfest einfach auf den 24. Juli verlegt. Sie feiern dann unter dem großen Kirschbaum im Garten, und die Reste vom Weihnachtsschmaus wirft man einfach in den nahegelegenen See.

 

Diese Geschichte finden Sie neben 23 anderen Einfällen im literarischen Adventskalender Weihnachtskarpfen – Zwei Dutzend Einfälle

 

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